Äpfel, so rot, lange nicht gesehen hatten.
Auch die Bienen, die Fliegen, die Wespen summten herbei und ließen sich auf den Blättern, Zweigen oder Äpfel nieder, doch obwohl es so manchem im Stachel juckte: Niemand wagte da, auch nur eine der makellosen Schönheiten anzupieksen.
Sogar die Kühe und Schafe, die auf der Weide standen, waren herbeigekommen, und sie alle staunten über die Pracht, die dieser greise Baum hervorgebracht hatte. Keines der Tiere, die sonst nicht einen einzigen Apfel verschmäht hätten, aß auch nur ein einziges Stück Obst. Sie alle, in enger Gemeinschaft, legten sich in den Schatten des Baumes und plauderten, über dies, über das, und über die Äpfel, so rot, wie man sie überhaupt noch nie gesehen hatte, an diesem ihrem alten Freund dem Apfelbaum, der nun zu ihnen zu sprechen begann.
„Meine Freunde“, sprach er und räusperte sich, „ich freue mich, dass Ihr alle gekommen seid in diesem Sommer. Nicht immer haben wir so einmütig beieinander gestanden; oft haben wir uns gezankt, Ihr habt den Boden zu meinen Füßen matschig gemacht, habt mir die Früchte von den Ästen gezerrt oder Löcher hineingebohrt. Meine Äste und Zweige habt Ihr mit Eurem Gewicht beladen, und meine Ruhe mit Eurem Gezwitscher, Gesumme und Geblöke gestört. Doch immer spendete ich Euch Schatten, gab Euch Euren nötigen Rast- und Ruheplatz und ließ Euch meine Früchte, weil es die Natur so wollte. Und in all den Jahrzehnten mit Euch und Euren Ahnen war ich niemals alleine, und gemeinsam trotzten wir so manchem Sturm.“
Das Publikum applaudierte: In der Tat, so war es gewesen.
„Dann vor etwa zehn Jahren riss ein Sturm eine Hälfte meiner Krone davon; mein alter, hohler Stamm war fortan schutzlos der Witterung ausgesetzt – die andere Hälfte, ihr wisst es alle, lebte fortan in ständiger Gefahr.“ Der Baum räusperte sich kurz, richtete die Blätter und fuhr fort: „Und ihr wisst, trotz allem habe ich einen jungen Verwandten an meiner Seite großgezogen -“
„Ich will ja nichts sagen,“ nögelte eine Wespe leise, damit der Baum sie nicht hörte, „aber der taugt nichts. In die Früchte kommt man gar nicht reingebohrt, so hart sind die!“ „Ich weiß, und wenn man es dann doch geschafft hat: Die Dinger schmecken gar nicht“, antwortete ihre Nachbarin.
„- und ich habe mich immer redlich gemüht, meine halbe Krone, den blassen Abglanz meiner alten Schönheit, zu hegen und zu pflegen, immer weiter für Euch da zu sein und Schatten, Ruhe und Frucht zu spenden.“
„Und in diesem Jahr ist es doch wieder wunderbar gelungen“, blökte da ein Schaf, „Du bist doch ganz der Alte!“ Und alle Schafe stimmten ein.
Doch der Baum schüttelte traurig seine verbliebene halbe Krone. „Nein“, entgegnete er, „Ihr seht mich nun zum letzten Mal so. Und im Grunde genommen wißt ihr es auch, oder warum rührt ihr meine Früchte nicht an, wo es die schönsten seit Jahren sind? Nein, meine Lieben, meine Zeit ist gekommen. Diesen Frühling habe ich meine letzte Blüte gesehen, und Früchte, so rot, werdet ihr an dieser Krone, die schon bald dahinwelken wird, nie wieder sehen. Schon bald wird die Last zu groß sein, und ich werde vergehen. Das ist der Lauf der Dinge.“
„Pah“, machte der Habicht verächtlich, „Wenn man schon so spricht, kann es ja auch nichts werden. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“
Und die Eule, die neben ihm saß, schloß sinnierend die Augen und erwiderte: „Was kommen wird, wird kommen.“
„Danke“, entgegnete der Habicht, und in seiner Stimme lag Verachtung, „für diese Weisheit. Dafür ist Eure Gattung ja bekannt, dass ihr Dinge erkennt und benennt, die dem normalen Verstand nicht zugänglich sind. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Was kommen wird, wird kommen. Wahr ist das, das werde ich nicht anzweifeln, meine Gute!“
Die Eule, da sie sich zumindest der Weisheit Habitus nicht nehmen lassen wollte, schwieg und schloss die Augen, als versenkte sie sich in tiefe Meditation.
„Dann ist es also wahr“, sagte schließlich ein Star in die allgemeine Stille, „Was man so erspürt, es ist der letzte Sommer… dann ist es also wahr.“
„Ja“, sagte der Baum seufzend, „es ist wahr. Und ich bin froh, dass Ihr hier seid, und ich danke Euch von Herzen für die Gesellschaft. Auch einer von den Menschen war gestern hier, er sagte nichts, aber er sah meine roten Äpfel an und dann den Stamm, den jungen Trieb, und ich hörte ihn denken: ‚Ach, wie schön sind die Äpfel dieses Jahr, wie üppig, wie prachtvoll! Ach, könnte man ihn doch irgendwie stützen, irgendwie retten, aber… nein – nein, das sieht nicht gut aus…‘ Und er stand da eine ganze Weile neben mir und erinnerte sich an seine Kindheit, als er versuchte, auf mich hinaufzuklettern und an meinem dicken, glatten Stamm scheiterte. Er erinnerte sich, als er meine und meiner Nachbarn Äpfel pflücken war, mit den Großeltern, der Tante, den Eltern. Er erinnerte sich an die tausendmal, die er rastlos hier umher rannte, überglücklich! – Auch todunglücklich, oft. Und all der Trost und Schönheit in dem jungen Leben erschienen ihm allein in den Farben der Natur, ihrem Duft, ihrem Geschmack… und mit einem Mal war er wieder ganz dort. Er roch die Wiese, das Korn auf dem Feld, den Regen, die Wolle der Schafe, hörte das Rauschen der Blätter, das entfernte Geräusch eines Traktors oder eines Flugzeugs an einem strahlend blauen Sommerhimmel. Er griff nach einem meiner Äpfel im späten November, spürte die Kälte der Frucht und seine schroffe, schorfige Oberfläche und roch seinen herben, frischen Duft; spürte das Knacken und den Fruchtsaft, wie er spritzte und schmeckte, endlich, die herbe Säure und die rote Süße meines Apfels. Und in dem Moment, ich kann es nicht anders sagen, war dieser Mensch ganz Apfel, der Apfel war er. – Und ich hörte ihn denken: ‚Wahrlich, es ist eine ganze Welt in diesem Apfel, eine ganze Welt in jedem dieser Äpfel, so rot.‘ Und er legte seine Arme um meinen Stamm und begann zu weinen.“
Da wurden nun die Tiere alle sehr traurig. Und schon bald begann die ganze Natur, man kann es nicht anders sagen, zu weinen, zu weinen wie seit Jahren nicht. Und unter der Last der Tränen bogen sich die Zweige des Baumes, bis sie nichts mehr halten konnten und mit einem letzten Ächzer für immer zu Boden sanken.
Die Tiere freilich hatten noch ein Festmahl an den Äpfeln; auch der Mensch kam noch einmal und schnitt einen noch frischen Zweig vom Baum, um ihn auf einen anderen, jungen Baum aufzupfropfen; und er hoffte und bangte, dass ihm dieser Rest seiner Welt, die es nicht mehr gab, nicht genommen werden möge.