Einige Bemerkungen zu Ferdinand von Schirachs „Regen“

 

 

Kann ein Text gut sein – und trotzdem unerträglich? Ja, das ist möglich. Mit “Regen” präsentiert Ferdinand von Schirach einen überzeugenden Monolog über einen Protagonisten, der eines literarischen Textes gleichwohl nicht würdig ist.

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Autor und Protagonist

Beginnen wir mit dem Schlimmsten: der Entscheidung nämlich, dem Monolog „Regen“ einen Auszug aus einem Interview mit dem Autor beizugeben, der in etwa genauso lang ist wie der Monolog selbst. Warum schlimm? Weil man unweigerlich erkennen muss, dass der Monolog zwar Fiktion, der Verfasser aber dem Protagonisten charakterlich und in der Haltung durchaus ähnelt – man merkt das daran, dass man, nachdem man das Bändchen aus der Hand gelegt hat, hinterher kaum noch zuordnen kann, wo man eine Aussage nun gelesen hat: im Interview oder tatsächlich im fiktiven Werk? Diese „sympathetischen Verbindungen“ von Autor und Protagonist ist etwas, dessen man sich lieber wieder „entwissen“, das man gerne „ungewusst“ machen würde. Aber natürlich ist das unmöglich. Doch dazu später.

 

Inhalt – kurz erzählt

Kommen wir zum Monolog selbst: „Regen. Eine Liebeserklärung“. Der Inhalt ist schnell erzählt, denn viel passiert nicht auf diesen 50 Seiten. Der Protagonist, nach eigener Auskunft ein Schriftsteller, hat seit 17 Jahren nichts mehr und zuvor auch ziemlich wenig geschrieben. Er soll als Schöffe in einem Mordfall auftreten, was ihm ziemlich unrecht ist, doch sich der unliebsamen Pflicht vorab zu entziehen, gelingt ihm nicht. Der Mordfall selbst ist ziemlich klar und für die Geschichte nicht von großem Interesse: Eine Frau wurde von ihrem Mann mit einem Messer erstochen. Im Rahmen des Prozesses darf der Protagonist als Schöffe Fragen an den Angeklagten stellen und hat nur eine einzige: Welche Strafe er sich selbst geben würde? In der Folge wird ein Befangenheitsantrag gestellt, da er mit der Frage bereits die Schuld vorausgesetzt habe. Er muss dann eine kurze schriftliche Erklärung darüber abgeben, ob er sich befangen fühle oder nicht, womit er sich denkbar schwertut. Wir treffen den Protagonisten nach diesem Geschehen – regendurchnäßt, weil er eine halbe Stunde lang vor dem Tatort im Regen stand, hat er in einem Café Zuflucht gesucht, raucht und trinkt Kaffee. Er will wieder über die Straße zum Tatort gehen und dann über seine Befangenheit schreiben. Mit diesem Plan endet der Monolog.

 

Des Pudels Kern

Kurz zusammengefasst ist „Regen“ eine Art quod erat demonstrandum der Befangenheit. Wir erfahren, dass der Protagonist einst einen Gedichtband mit dem Titel „Statt Gedichte“ drucken ließ, darin 14 gedichtartige Werke auf 23 Seiten. Weil der Drucker annahm, es handele sich um einen Fehler und aus „Statt Gedichte“ „Stadtgedichte“ machte, wurde er wütend. Wieder zuhause, war er immer noch wütend. Darum wollte ihm seine Frau ein Glas Wasser holen und fiel währenddessen tot um – aufgrund eines Aneurysmas. Daran nun muss der Protagonist bei dem Fall offenbar beständig denken, und mutmaßlich, weil er sich wohl selbst eine Mitschuld am Tod der Frau zu geben scheint, stellt er im Prozess die Frage, durch die seine Unvoreingenommenheit in Zweifel gezogen wird. Und in der Tat, nach dem ausufernden Lamenti des Protagonisten kommt der Leser unweigerlich zu dem Schluss, dass selbiger zweifellos befangen ist.

 

Beziehung zu Mensch und Natur

Gelungen ist die Beschreibung des reichlich gestörten Naturverhältnisses des Protagonisten, der gerne in der Natur ist, „nur nicht zu sehr“. „Draußen ist es nur von drinnen schön“, konstatiert er. Baden im Meer und Sandstrände sind ihm, wegen der Verbindung mit Verwesendem und Exkrementen, zuwider. Am liebsten hat er die Natur „durch das geschlossene Fenster, aus der Distanz“ (S. 48). Insofern ist natürlich signifikant, dass er völlig durchnässt aus dem Regen kommend in einem Café Zuflucht gesucht hat: Es ist der Versuch der Wiederaneignung von Distanz, die ihm durch die Konfrontation mit der Natur, einschließlich der menschlichen, abhandengekommen war.

Einige Bemerkungen sollten auch dem Untertitel gewidmet werden: „Eine Liebeserklärung“. Diese ist offenbar nicht an den Regen gerichtet, sondern an die verstorbene Frau, die über die Frage der Schuld und der Strafe durch den Protagonisten in die Geschichte eingewoben wird. Wir erfahren nicht wirklich irgendetwas über diese Frau, außer, dass sich der Protagonist in ihr gespiegelt sah, dass sie als Einzige seine Gedichte las und sie ihm ein Glas Wasser holen wollte, als er sich wegen des Druckers aufregte. Jenseits dessen hat sie keinen wirklichen Charakter, keine Eigenschaften. Diese Gebrochenheit und Distanz wird noch dadurch verstärkt, dass der Protagonist sein Interesse an dieser Frau mit einer Erinnerung an ein Mädchen aus seiner Kindheit erklärt, das er noch nicht einmal näher kannte, das ihn aber bei einer Gelegenheit beeindruckte. Auch diese eigentümliche Nicht-Beziehung zu dieser Frau ist symptomatisch: Der Ich-Erzähler kreist in unerträglicher Weise immer nur um sich selbst. Was für eine Liebeserklärung, die allein darin besteht, eine Spiegelung der eigenen Seele im anderen zu behaupten und sich ansonsten in obskuren Schuldgefühlen über den Tod der angeblich verwandten Seele zu suhlen…!

 

Aus dem Leben eines Taugenichts?

Wenn der Protagonist nun am Ende des Monologs beschließt, wieder an den Tatort zurückzukehren und dort über seine Befangenheit zu schreiben, dann ist die entscheidende Frage: Wird er das auch tun? Man hat so seine Zweifel, denn das setzte eine Entschlusskraft voraus, an der es dem Protagonisten an allen Ecken und Enden mangelt. Das ist auch eine der schrecklichsten Dinge an diesem Text – das unerträgliche Lamentieren dieses Taugenichts. 

Denn nichts anderes ist er, bei Licht besehen. Er hat, abgesehen von seinen 14 falsch betitelten „gedichtähnlichen Gedichten“ – also auch irgendwie ein Nichts – nie etwas in den Druck gebracht und offenbar auch nicht wirklich mehr geschrieben. Die Frau mit dem Aneurysma war auch die einzige Leserin: „Nur sie las die gedichtähnlichen Gedichte, der einzige Mensch, dem ich sie gegeben habe.“ (S. 24) Die Leistung des Protagonisten, der sich anfangs vollmundig als „Schriftsteller“ vorstellt, löst sich also schnell in Nichts auf.

 

Symptom des pseudointellektuellen Zeitgeists

„Regen“ entspricht damit voll und ganz dem Zeitgeist. Zum Protagonisten und zweifelhaften „Helden“ wird der Mensch, der rein gar nichts schafft, der Mann, der in dramatischer Weise von einer Frau abhängig ist, in die alles Mögliche hineinprojiziert wird, die aber als Individuum kaum eine Rolle spielt. Der Protagonist fühlt sich wohl in eigentümlichen Kapriolen – zum Beispiel seinem Verhältnis zur Natur sowie der ritualisierten Praxis seines angeblichen Berufs als Schriftsteller, aus denen er indirekt seine individuelle Relevanz ableitet. Zudem hat er zu diversen medial relevant gemachten Themen etwas zu sagen, das gleichwohl nie von der in seiner gesellschaftlichen Klasse akzeptierten Meinung nachhaltig abweicht. So ist er selbstverständlich gegen Politiker, die „durchregieren“ und „endlich mal durchgreifen“ – deren Wahl ist das Ergebnis von Menschen, die „Ambivalenzen nicht mehr aushalten“ (S. 32). (Ich würde hingegen argumentieren: Ihre Wahl ist die Verzweiflungstat jener, die diese unerträgliche Jammerlappigkeit, Schwäche und Nichtsnutzigkeit derer nicht mehr ertragen, die genauso sind wie der Protagonist oder die das, was er verkörpert, zum Ideal machen.)

Kurzum: Dieser Protagonist ist die Verkörperung des modernen, selbsternannten deutschen Intellektuellen, wie man ihn vornehmlich in der Nachkriegsgeneration bis hinein in die Generation X antrifft. Sie sind keine echten Intellektuellen, sie denken nicht selbst. Sie sind Teil ebenjener pseudointellektuellen Bourgeoisie, die unsere herrschende politische Klasse ist und die dann auch glaubt, Wissenschaft sei etwas, dem man folgen könne (sogar dann, wenn sie selber „Wissenschaftler“ sind). In einer Rezension zu „Regen“ auf n-tv.de las ich folgenden Absatz, den ich in diesem Kontext durchaus relevant finde:

„Ellenlang lamentiert der Protagonist über den “modernen Menschen”, der Rucksäcke in Großstädten trägt. In der Beschreibung des Erzählers klingen die Attribute “praktisch und funktionell” wie eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft. Er jammert über Selbstbedienungsrestaurants und Frühstücksbuffets, klagt über Kunstwerke auf Bildschirmen und den Berliner Flughafen. Natürlich ist er auch über das Rauchverbot in Restaurants nie hinweggekommen.“ (Quelle: n-tv.de)

Das ist nicht verkehrt. Dennoch schwingt in diesem Urteil der Gedanke mit, der Protagonist sei ein ewig Gestriger. Das aber stimmt nicht: Denn die Form (nicht der Inhalt, dem man durchaus in Teilen beipflichten kann) dieses Lamentis gehört zum festen Bestandteil des Habitus des modernen Pseudointellektuellen, dessen „Intellektualität“ ein erstarrter Ritual- und Zeremonienkomplex ist, in dem Empfindsamkeit, Betroffenheit und Kokettieren mit (oft nur scheinbaren) persönlichen Eigentümlichkeiten und Kuriositäten zentrale Elemente sind. Zugegebenermaßen gehört die konkrete Form, die der Protagonist lebt, einer älteren Generation an. Doch die Aktivisten der Generationen Y und Z, ihr zwanghaftes Moralisieren und Sich-zum-Opfer-Stilisieren sind nur eine konsequente Fortschreibung der Ritualwelt des Protagonisten in „Regen“: Sie haben die Eleganz der Sprache verloren und das stille, sentimentale Leiden gegen marktschreierischen Aktivismus eingetauscht. Der Unterschied ist aber graduell, nicht grundsätzlich.

 

Mein Verdikt

Insgesamt ist „Regen“ natürlich kein schlechtes Buch. Es ist bloß so, dass ich in der Literatur lieber von echten Helden lesen würde, als von Menschen, die schon in der Realität im Wesentlichen Zeitverschwendung sind. Und da komme ich auf den Anfangspunkt zurück: Warum es so unschön ist, dass man dem Monolog noch ein Interview mit dem Autor beigefügt hat. Liest man ein Werk, dessen Protagonist einem zuwider ist, so bleibt einem als Trost immer der Gedanke, dass der Autor sich mit ihm nicht identifiziert, ihn vielmehr nur aus der Distanz gut portraitiert. Das ist aber hier ganz klar nicht der Fall. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Autor etwa mit dem Protogonisten quasi-identisch wäre. Aber man spürt denselben Grundgeist.

Auch etwa darin, dass von Schirach der Idee des „Künstlers ohne Werk“ etwas abgewinnen kann. Es gibt keinen Künstler ohne Werk. Ich erinnere mich gut, dass mir früher vielfach Menschen, die erfuhren, dass ich schreibe, erzählt haben: „Ich schreibe auch, ich bekomme es nur nicht aufs Papier.“ Nun, wer nichts aufs Papier bekommt, der schreibt nicht. So wenig, wie es einen Maler gibt, der nichts auf die Leinwand bringt. Man kann ein erfolgloser Schriftsteller sein oder einer, der nicht publiziert ist. Aber nicht einer, der nicht schreibt.

Also, alles in allem ist „Regen“ ein gutes literarisches Werk über ein Sujet, über das man lieber nichts gelesen hätte.