Wenn die Welt eine Veranda hätte

 

Jedes Leben braucht eine vorrangige Aufgabe. Und wenn es meine sein sollte, der Welt die Perlen der Weisheit in der Countrymusik zu vermitteln, so wäre ich damit gar nicht unzufrieden. Und so beginnen wir diese neue Artikelserie mit dem Lied „If the world had a front porch“ von Tracy Lawrence. Denn es gibt vielleicht Songs mit noch prägnanterer Message, aber irgendwie passt dieser in jeder Hinsicht in die Zeit.

Image by Chelsea Ouellet from Pixabay

„If the world had a front porch like we did back then
We’d still have our problems but we’d all be friends
Treating your neighbor like he’s your next of kin
Wouldn’t be gone with the wind
If the world had a front porch, like we did back then“

Daten für Freaks

Das Lied von dem 1994er Album „I see it now“ wurde als vierte Single ausgekoppelt (nach, unter anderem, „Texas Tornado“) und erreichte Platz 2 der US-Countrycharts und Platz 7 in Kanada. Ja, mehr Details gehen immer, steht aber auch auf Wikipedia und ist hier nicht so richtig relevant.

 

Die Veranda – ein Ort der Zusammenkunft

Wikipedia gibt eine Zusammenfassung des Songs: „The narrator talks about traditional family values and the old-fashioned sweetness of spending slow summer hours on the front steps.“ Während das vermutlich irgendwie nicht falsch ist, ist es auch eine grandiose Übersimplifizierung dessen, worum es geht.

Korrekt ist, dass der Liedtext in den drei Strophen beschreibt, wie das Leben auf der Veranda, der front porch, verläuft und was sich dort alles ereignet: Der Ich-Erzähler lernt Gut und Böse kennen und erhält seine grundlegende religiöse Erziehung vom Großvater („it was where granddaddy taught me how to cuss and how to pray“), lernt Gitarre spielen und küsst seine erste Liebe. Die Großmutter häkelt auf der Verandaschaukel, die Brüder schlagen sich, der Hund bekommt seine Jungen, man arbeitet dort gemeinsam („purple hulls and pintos, I’ve shelled more than my share“), genießt aber auch gemeinsam, beispielsweise, indem man Eiscreme herstellt. Mit anderen Worten: Die Veranda ist der Ort, der die Gesamtheit des Lebens beinhaltet und symbolisiert.

 

Analyse von Text und Video

Die eigentliche Message des Lieds ist also nicht bloß „traditionelle Werte und schöne Sommer auf der Veranda“, sondern dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn die Menschen sich auf diese Lebenskultur besinnen würden. Das ist zum einen die explizite Aussage des Refrains, zum anderen wird es auch im Video – das im übrigen zu dem Besten gehört, was in Sachen Musikvideos in der Zeit gemacht wurde – sehr gut in Szene gesetzt.

Hier ist Wikipedia eigentümlicherweise ziemlich akkurat in seiner Beschreibung. Eigentümlicherweise, weil die genaue Beschreibung des Videos eigentlich deutlich machen sollte, dass die Ein-Satz-Inhaltsangabe den Kern des Liedes verfehlt.
Das Video beginnt mit einer Szene aus einem anderen Musikvideo, und wir hören einige Sekunden „Texas Tornado“, eine frühere Single-Auskopplung aus demselben Album. Dann findet ein abrupter Bruch statt, es erscheinen die Worte „Retrieving Front Porch“ werden wir mithilfe Virtueller Realität auf eine Veranda gebeamt.

Wir sehen dann, wie Tracy Lawrence mit einem Freund mit einer VR-Brille auf dem Kopf vor einem Computer sitzt: Wir, die Zuschauer, sehen also, was die beiden sehen, wenn sie die VR-Brillen tragen, nämlich zunächst Szenen aus der Vergangenheit auf der Veranda, mit den Großeltern, Geschwistern, wie es in den Strophen besungen wird. Derweil gibt es einen zweiten Erzählstrang, der Tracy Lawrence auf besagter Virtueller Veranda zeigt, wo er „If the world had a front porch“ singt, während die Veranda durch eine Szenerie wechselnder Schauplätze reist. Die meisten davon zeigen amerikanische Landschaften.

Wir wechseln nun zurück ins Wohnzimmer zu Tracy Lawrence und seinem Freund. Sie sehen zunächst wieder Szenen auf der Veranda, doch dann wird das Bild gestört. Auf dem Monitor erscheint die Information „REACQUIRING“, während wir nun statt der Veranda verstörende Szenen sehen: Drogenhandel, Prostituierte auf der Straße, Aufnahmen von den Unruhen in Los Angeles 1992, die Verfolgungsjagd mit O. J. Simpson und Gewaltaufnahmen aus dem Golfkrieg. Während dieser Szenen gibt die VR-Brille immer eindringlichere Warnhinweise: WARNING, INPUT OVERLOAD – STANDBY, INPUT OVERLOAD – WARNING, CPU CRITICAL ERROR. Schließlich erscheint über den ganzen Bildschirm gespannt das Wort „ABORT“.

Dann sehen wir erneut kurz die Männer im Wohnzimmer, das nächste Bild ist ein Adler, der vor einer US-Flagge fliegt. Anschließend sehen wir bis zum Ende nur noch Tracy Lawrence sowie positive Bilder des amerikanischen Lebens: Menschen, die einander bei der Hand halten, eine Familie am Esstisch, eine Abschlussfeier, Kinder mit Welpen, einen Vater mit einem Baby und eine Hochzeit. Dabei sind stets verschiedene Altersgruppen und Menschen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit zu sehen.

Die christliche Bedeutung: Gott gegen Teufel

Video wie Lied haben damit klar einen starken Gesellschaftsbezug, der über das oberflächliche Preisen traditioneller Werte hinausgeht. Doch es geht nicht bloß darum, sich angesichts unnützer Kriege, Kriminalität und Prostitution für Werte wie Familie und positives Miteinander auszusprechen. Dem Lied liegt auch eine klare christliche Botschaft zugrunde. Der klare Indikator dafür findet sich in der zweiten Strophe:

 „And like a beacon that old yellow bulb, it always led me home
Somehow mama always knew just when to leave it on“

Das front porch light ist ein klassisches Motiv, das auch in der Literatur und im Film zum Einsatz kommt (z.B. am Ende von „Modern Family“) und in der Countrymusik häufig zu finden ist. Zunächst einmal ist es ein Signal, dass man erwartet, dass jemand, der das Haus verlassen hat, sicher wieder zurückfindet. Dass dieses Bild auch christlich konnotiert ist, ist eigentlich evident. So heißt es zum Beispiel in Joh 8:12: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“

Um zu verstehen, dass dies nicht eine Einzelstelle ist, sondern die tiefere Bedeutung des gesamten Liedtextes, muss man noch verstehen, dass die Veranda an und für sich schon eine Trope ist: Sie gehört zu einem Haustyp, der ikonisch war und ist für das ländliche Amerika – auch, wenn es heute natürlich auch diverse anderer Haustypen ohne Verandas gibt. Das typische ländliche Haus ist eines mit einer front porch, manchmal auch einer back porch, und es gibt auch Häusertypen mit wrap around porch, die, wie der Name verrät, einmal ums ganze Haus geht. Zur front porch gehören zum einen das genannte front porch light, zum anderen die front porch swing, in der Regel eine einfache Holzschaukel, die mit Ketten im Dach der Veranda verankert ist.

Auf der front porch (und der front porch swing) spielt sich, insbesondere im Sommer, das Leben ab, und zwar durchaus in der Weise, wie es hier im Song beschrieben ist. Und im Übrigen wird jeder, der auf dem Land großgeworden ist, bestätigen, dass das dort gezeichnete Bild nicht unrealistisch ist – auch wenn sich anderenorts dieselben Szenen vielleicht auf der Terrasse, im Hof oder in der Küche abspielen mögen.

Wir sehen in dem Songtext auch, dass zwar die positiven Erlebnisse in den Vordergrund gestellt werden, nicht aber schlechte negiert. Die Kinder streiten sich. Und der Großvater lehrt eben nicht nur das Beten, sondern auch das Fluchen. Gerade in dieser Gegenüberstellung ist das ein klares Indiz dafür, dass das Böse als zum Leben dazugehörig gedacht wird – auf den richtigen Umgang damit kommt es an. Und im Refrain heißt es ausdrücklich:

„We’d still have our problems, but we’d all be friends
treating you neighbor like he’s your next of kin
wouldn’t be gone with the wind“

Es gibt es also Probleme, aber man behandelt einander als Menschen – und so entsteht ein gutes Leben, dass mit „the world“ kontrastiert wird, die sich davon eine Scheibe abschneiden könnte. Im Video wird das illustriert durch Kriegszenen, Tumulte, Prostitution und Drogen – alles Dinge, die natürlich aus einer christlichen Perspektive Teufelswerk sind. Vermittels des front porch light wird also die Verbindung zur religiösen Dimension eröffnet: Dieses Leben ist ein exemplarisches, gutes Leben, wie es von Gott gewollt ist. Und wenn die Welt solch eine Veranda hätte, dann hätte der Teufel keine Chance.

Fazit: Er hat recht

Ich finde noch immer, dass dies eines der schönsten Lieder ist, die die 90er Jahre hervorgebracht haben – auch wenn es derer, wie ich zugeben muss, einige gibt. Und ich das wahrscheinlich noch einhundert Mal über andere Lieder schreiben werde.

Vor allem aber scheint es heute um so aktueller in einer Welt, die sich dem gewaltsamen Konflikt zu verschrieben haben scheint, in der Wahrheit nichts zählt, wir Drogen für harmlos erklären und legalisieren, während in den USA seit 20 Jahren die Zahl der Drogentoten rapide ansteigt, wo Prostitution via OnlyFans salonfähig wird, jede noch so abseitige Absurdität zur „Identität“ erklärt und zwangsgefeiert wird und in der Aufmerksamkeit alles und Geist nichts ist.

Ich wünschte auch, dass die Welt eine Veranda hätte, wie wir sie damals hatten.